Begrüßungsrede Taktsinn I

 Begrüßungsrede (Inga Reimers)

Herzlich willkommen in der Universität der Nachbarschaften ich freue mich sehr, diesen von langer Hand geplanten Abend endlich mit euch und Ihnen genießen zu können. Als Überschrift für diesen Abend habe ich das Kunstwort „Taktsinn“ gewählt. Es trägt in komprimierter Form bereits einen großen Teil meines Forschungsinteresses in sich: Es beinhaltet den Takt eines Musikstücks, dass hörend wahrgenommen werden kann und auch den Takt im Sinnes eines Fingerspitzengefühls im menschlichen Miteinander. Mit dieser Metapher verweist Takt eben auch auf das Taktile, also das tastende Wahrnehmen. Mit dem zweiten Wort „Sinn“ wird auf das übergeordnete Feld der Sinne verwiesen. Darüber hinaus trägt der Abend die Überschrift des Nicht-Visuellen und des Experiments, welches zentrale Gegenstände in meiner Doktorarbeit im Graduiertenkolleg Versammlung uns Teilhabe darstellen.

Die Motivation meiner Forschung besteht im Hinterfragen der Dominanz des Visuellen im Alltag, in der Wissenschaft und in der Kunst. In all diesen Bereichen stellt der Sehsinn den zentralen Sinn dar. Das wird meine Forschung sicher nicht grundlegend ändern. Ich möchte aber mit Experimenten wie diesem heute Abend danach fragen, was die tastende, riechende, schmeckende und hörende Wahrnehmung der Welt ausmacht und auch an anderen Erkenntnissen bringen kann. Doch kann man das Nicht-Visuelle überhaupt als ForschungsGEGENSTAND beschreiben? Inwiefern ist es Gegenständlich? Und wie können wir es be-greifen? Was erfahren wir mit unseren nicht-visuellen Sinnen über die Welt und welche Praktiken sind damit verbunden? Das sind Fragen, die den Experten und der Expertin des heutigen Abends gestellt habe und die auch uns allen noch einmal stellen möchte.

Bei einer Versammlung wie dieser um einen gemeinsamen Tisch interagieren nicht nur die verschiedenen Menschen miteinander. Auch der Raum und die anwesenden Dinge wirken auf die Menschen und umgekehrt. Somit entsteht eine Atmosphäre, die nicht nur visuell beschrieben werden kann. Eine solche Atmosphäre lässt sich nur gemeinsam erzeugen und ist in der Vorbereitung eines solchen Abends nur bedingt planbar. In diesem Sinne besteht meine Forschung also auch darin, kollektiv zu forschen sowie Settings und Räume zu schaffen. Dabei bringe ich – wie heute Abend – Expertinnen und Experten des Nicht-Visuellen zusammen, sodass zwangläufig in der Interaktion Wissen über das Nicht-Visuelle produziert und ausgetauscht wird. Die Situation des gemeinsamen Essens an einem Tisch soll uns allen die Beteiligung daran erleichtern.

Nachdem ich nun ganz kurz meine Forschung umrissen habe, möchte ich vorab dazu anregen, das Essen zwischen den einzelnen Vorträgen heute Abend bewusst – vielleicht bewusster als sonst – zu genießen: Welche Konsistenz hat es? Ist es knusprig, weich, scharf, süß oder salzig? Diese bewusste Hinwendung zum Essen soll schließlich unsere gesamte Sinneswahrnehmung an diesem Abend schärfen. Wie riecht also beispielweise die Ingwer-Möhrensuppe? Wie fühlt sich das Fingerfood im Hauptgang an? Und welche Geräusche macht ein Apfelcrumble, wenn es gemeinschaftlich gekaut wird?

Schaut man sich den Vorgang des Essens und den des Forschens dann einmal genauer an, gibt es Parallelen, die bei dieser bewussten Wahrnehmung helfen können. In beiden Feldern nähert man sich einem Gegenstand, analysiert und verarbeitet ihn, bis man sich schließlich wieder neuem zuwendet. Auch wir werden das Essen heute Abend, Bissen für Bissen, in den Mund stecken, mit unserer Zunge befühlen, werden es zerteilen und im Mund wenden und dabei zur Analyse vorbereiten. Dabei entfaltet sich der Geschmack eines Getränks oder einer Speise erst nach und nach im Laufe dieses Vorgangs. Wir fragen uns: Schmeckt es? Wie schmeckt es? Welche Konsistenz hat es? Dabei ist der Mund die Schnittstelle für Worte und Essen: Sie begegnen sich, während die Speisen hinein und die Worte hinausgehen. Daher darf und soll in diesem Format ganz bewusst mit vollem Mund gesprochen werden.

Nach dem Kauen wird das Essen geschluckt und gleitet in den Magen. Es wird für kurze Zeit eins mit dem Körper, der es noch einmal in kleinere Teile zerlegt und nur das behält, was er gebrauchen kann. Auch als Forschende nähern wir uns unserem Gegenstand, bauen Nähe zu ihm auf, nehmen mit, was wir interessant finden und verlassen das Feld dann wieder. Beide Vorgänge – das Essen und Forschen – sind dabei sehr subjektiv und an den eigenen Körper gebunden: Im Gegensatz zu einem Objekt, das auch nach dem Betasten nahezu dasselbe bleibt, können zwei Personen nie genau dasselbe essen.

Über diese sinnlichen Parallelen zwischen Essen und Forschen hinaus gibt es in der Kunstgeschichte viele Beispiele für gemeinsames Essen als Rahmen für soziale, gesellschaftliche und künstlerische Prozesse: So holten die Futuristen in den 1930er Jahren das sonst vor allem in der Stilllebenmalerei gezeigte Essen mit dem „Manifest der futuristischen Küche“ und verschiedenen Banketten zurück in mit allen Sinnen erfahrbare Dimensionen. Die Philosophin Madalina Diaconu beschreibt das gemeinsame Mahl als Ort und Praxis der Diplomatie, des Waffenstillstands und des Beisammenseins par excellence, welche über kulturelle, politische und religiöse Grenzen Gültigkeit hat.

Im Jahr 1996 initiierte Friedemann Derschmidt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das Format „Permanent Breakfast“. In diesem lädt er Personen zum Frühstück im öffentlichen Raum ein. Die Gäste verpflichten sich zum nächsten möglichen Zeitpunkt jeweils ein weiteres öffentliches Frühstück zu initiieren und so weiter und so fort. Fotos dieser Versammlungen werden auf der Homepage permanentbreakfast.org dokumentiert. Friedemann Derschmidt beschreibt das Format des gemeinsamen Essens in diesen Zusammenhang wie folgt: „Das Essen macht die Menschen offen, bietet den geeigneten Rahmen , um auch soziale Grenzen abzubauen, lässt Situationen entstehen, die man nicht planen kann.“

In diesem Sinne, wollen wir also gemeinsam schauen, zu welchen Ideen und Erkenntnissen uns die drei ExpertInnenbeiträge anregen, welche Sinne und Diskussionen beim Essen angesprochen werden und was sich darüber hinaus zwischen uns, den Dingen und dem Raum entwickeln wird. Der erste Vortrag kommt nun von Siegfried Saerberg und trägt den Titel „Auditief“. Im Anschluss daran wird die Suppe serviert. Nach der Suppe wird Johannes Müske seine empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen zu verschiedensten Klangwelten vorstellen. Danach folgt der Hauptgang, der aus vier verschiedenen Fingerfoodvariationen besteht. Bevor wir das Dessert – ein Apfel Crumble mit Vanillesoße – genießen, wird Angelika Leisering unseren passiven Sinn ansprechen und ein Sensitivitätsexperiment mit uns durchführen. Mit einem Wilhelmsburger Deichbruch werden wir dann den offiziellen Teil des Abends beschließen.

Danach gibt es für alle, die noch bleiben wollen, Getränke an der Bar sowie Kaffee, Tee und Zigaretten im Foyer. Da aber eure Ideen und Erkenntnisse am Ende des Abends nicht mit euch gehen sollen, bitte ich um eine kurze Rückkopplung des Erlebten an eure Fragen, die ihr mir geschickt oder mitgebracht habt. Hierfür liegen am Kaffeetisch Stifte und Papier aus oder ihr könnt eure Eindrücke an der Bar schildern.

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