Kategorie-Archiv: Ess-Setting

Begrüßungsrede Taktsinn III

Begrüßungsvortrag (Inga Reimers)

An Nahrungsmitteln, dem Vorgang des Essens und der gemeinsamen Mahlzeit lassen sich unzählbare Dinge ablesen und zeigen. In der von der gastgebenden Person bestimmten oder sich ergebenden Anordnung der Essenden um das Essen herum lassen sich Hierarchien sowie Sympathien und Antipathien ablesen. Dabei unterscheidet sich die alltägliche Tischgemeinschaft, die meist identisch mit Lebens- und Arbeitsgemeinschaften ist, von außergewöhnlichen Tischgemeinschaften wie zum Beispiel bei einem Festmahl. Beim Festmahl tritt der Aspekt der Nahrungsversorgung zu Gunsten des sozialen Ereignisses in den Hintergrund. Die noch nicht durch andere Zusammenhänge bestehende Gemeinschaft wie z.B. einer Familie wird hier erst durch das Essen und die Versammlung hergestellt. So werden Geschäftsessen oder auch das christliche Abendmahl mit der Absicht inszeniert, die mit dem Essen verbundenen sozialen Qualitäten zu nutzen. Die Essenden verleiben sich hier die Speisen ein und werden dabei Teil eines sozialen Körpers. Für die Bildung der Gemeinschaft ist es meist zweitrangig, ob und was gegessen wird. Viel wichtiger sind hierfür die Anordnung der Essenden an einer Tafel und die oft stillschweigende Übereinkunft, dass es sich um eine Tischgemeinschaft handelt. Trotzdem zeigt sich die soziale Ordnung der Gemeinschaft zum Beispiel darin, wer den Beginn des Essens bestimmt.

Essen als Setting ist also erstens immer auch eine soziale Versammlung.

In den Codes und Regeln beim Essen ist auch enthalten, dass sämtliche Nahrungsmittel, Zubereitungsweisen genauso wie Essgeschirr und Know How der Teilnehmenden als Repräsentanten für kulturelle Hintergründe, politische Positionen oder individuelle Erfahrungen in eine kollektive Ess- und Kochsituation eingebracht werden. Diese so mit jedem Ess-Setting neu entstehende „foodscape“ gilt in meiner Forschung es zu decodieren und zur Sprache zu bringen.

Genauso können bestimmte Gerichte oder die Verwendung bestimmter Zutaten als Zeichen auf eine bestimmte Zeit verweisen. Sei es in Form einer Kindheitserinnerung oder in Form von Tiefkühl- und Fertigprodukten, die in der Nachkriegsküche für Wohlstand und wirtschaftlichen Fortschritt standen. Aktuell sind zwei sich bedingende, gegensätzliche Trends zu beobachten: Einerseits eine industrialisierte Nahrungsmittelproduktion, die Skandale und eine scheinbare Vereinzelung des Essens hervorbringt und auf der anderen Seite die seit Jahren anhaltende Konjunktur von Kochshows, Dinner-Events, Slow Food- und Foodsharing-Bewegungen. Und genau diesen Trends gehe ich in meiner Forschung nach.

Essen als Setting ist also zweitens immer auch eine Form von Repräsentation.

Die Mahlzeit als universelle Form der Gemeinschaft ist somit unbestritten. Allerdings besitzt der eigentliche Vorgang des Essens darüber hinaus auch Momente des Subjektiven und Individuellen: Der Tellerrand ist hier beispielsweise eine Grenze, die in den meisten Ess-Situationen von den SitznachbarInnen nicht übertreten werden sollte. Und auch der physiologische Vorgang der Nahrungsaufnahme sowie des Schmeckens ist zwar bei den meisten Menschen nahezu identisch, kann aber nur innerhalb der subjektiven Wahrnehmung und innerhalb des eigenen Körpers vonstattengehen. Insbesondere mit Hinblick darauf, dass die Aufnahme von Nahrung überlebenswichtig ist, scheint es aus biologischer Sicht eher angemessen, die vorhandene Nahrung nicht zu teilen.

Gleichzeitig ist die mit dem Essen verbundene sinnlich-individuelle Wahrnehmung wieder auch prägend für die Atmosphäre einer essenden Gemeinschaft und wird in dieser zum Beispiel mit Hinblick auf Geschmack, Geruch, Aussehen und Konsistenz des Essens verhandelt. Dabei sind diese Wahrnehmungen häufig schwer verbalisierbar und wurden bzw. werden deshalb in Wissenschaft und Alltag häufig nur oberflächlich thematisiert und sind hier vielen Stereotypen unterworfen. Gerade Geschmack und Geruch werden wie auch der Tastsinn den Nahsinnen zugeordnet. Das bedeutet in der riechenden, schmeckenden und tastenden Wahrnehmung wird die Distanz zwischen dem eigenen Körper und dem zu erkundenden Gegenstand weitestgehend aufgegeben.

Essen als Setting ist also drittens immer auch eine Form der sinnlichen Versammlung.

Wie sich am Essen als Repräsentation zeigt, verweisen Lebensmittel, Gerichte und ihre Zubereitung auf Handlungen, Situationen, Diskurse, die außerhalb der aktuellen Koch- und Ess-Situation liegen. Hinzu kommt, dass den meisten Menschen der gemeinschaftsbildende Charakter von Mahlzeiten sehr bewusst ist. Somit können die dem Essen innewohnenden Rituale, Abläufe und Regeln auch als Inszenierungen für verschiedenste Zwecke genutzt werden. Künstler wie Daniel Spoerri oder Rirkrit Tiravanija haben dies zum Beispiel bei ihren Mahlzeiten in Kunsträumen wie Galerien getan. Auch im Film werden häufig Konflikte über eine Esssituation verdeutlicht.

Darüber hinaus kann zum Beispiel auch die Tischrede als Teil der Dramaturgie eines mehrgängigen Festessens performativ genutzt werden. Auch die bereits erwähnte Schaffung von Gemeinschaft in religiösen Mahlzeiten oder in Geschäftsessen ist das Ergebnis einer ritualisierten Inszenierung der Ess-Situation. In Sitzordnungen und Tischsitten zeigen sich die Rollen der Teilnehmenden und werden durch die Mahlzeit gefestigt.

Wie sich darüber hinaus bei unserer Arbeit im Graduiertenkolleg gezeigt hat, fehlt es oft an einem Format, welches das im Rahmen von künstlerischen Forschungen wie Aufführungen hervorgebrachte Wissen bündelt und in eine dokumentierbare und für die Forschung verwertbare Form überführt. BesucherInnenbefragungen oder Fragebögen im Anschluss an eine Aktion werden hier oft als Bruch mit der Aufführungssituation und als künstlich empfunden. Die Inszenierung dieser Befragungssituation als gemeinsames Essen, das sich vielleicht ohnehin an einen Theaterbesuch angeschlossen hätte, könnte ein Lösungsvorschlag sein.

Essen als Setting ist also viertens immer auch ein performativer Rahmen.

Diese vier vorgestellten Kategorien sind das Ergebnis einer ethnographischen Forschung, in der ich mir Dokumentationen und verschiedene Essgemeinschaften angeschaut habe. Darüber hinaus habe ich die erwähnten Dinner als weitere Forschungssettings veranstaltet. All diese Situationen fasse ich unter dem Format des Ess-Settings zusammen. Es ist dann gegeben, wenn in Situationen bewusst mit Essen und Kochen als kollektiver Handlung umgegangen wird und dabei idealerweise ein übergeordnetes Thema bearbeitet wird. Das können zum Beispiel Ess- und Kochsettings wie Supperclubs, Nachbarschaftskochen oder öffentliche Picknicks sein. Nicht selten spielen hier neben dem Versprechen des gemeinsamen Vergnügens auch Aspekte wie Aktivierung zu mehr Beteiligung oder das Sammeln von Informationen eine Rolle.

Ess-Experimente wie dieses heute stellen für mich eine Möglichkeit dar, offene Fragen auszuprobieren und auch eine größere Öffentlichkeit in die Forschung aktiv mit einzubeziehen. Dabei stelle ich meine Thesen zur Disposition und lade diese Öffentlichkeit ein, an meiner Forschung teilzunehmen. Dabei geht es weniger darum, jemandem eine Stimme zu geben, sondern vielmehr bin ich auf die Teilnehmenden angewiesen, weil ich dieses Wissen so gar nicht alleine produzieren könnte. Beim Umgang mit der Alltagshandlung „Essen“ geht es demnach weniger darum, verborgenes Wissen aufzudecken, sondern vielmehr darum, Ess- und Kochsituationen in ihrer Banalität zu den genannten Kategorien zu befragen und möglicherweise auch für andere Forschungen übertragbar zu machen. In diesem Sinne sind Ess-Settings immer auch experimentelle Anordnungen nach der Experiment-Definition von Hans Jörg Rheinberger: Also Situationen und Aufbauten, in denen sich Wissen ereignen kann, zur Sprache kommt und sich neu kombiniert.

Das hier und heute gewählte Format der Erkenntnispräsentation zeigt also einerseits meine leitenden Forschungskategorien zu Ess-Settings und andererseits sollen in den Ess-Experimenten eben diese Kategorien nachvollziehbar und erlebbar werden. Daher sind die vier zu erlebenden Settings ganz bewusst etwas plakativer gestaltet und können dabei gerne auch Kritik hervorbringen.

Wie deutlich geworden ist, haben alle Kategorien Schnittmengen mit den jeweils anderen. Diese genauer zu beschreiben stellt einen nächsten Schritt meiner Forschung dar. Sollten sich heute in den Experimenten für euch weitere Kategorien anbieten, schreibt sie gerne auf die Tischdecke, die euch auch für alle weiteren Notizen zur Verfügung stehen soll. Wenn euch weitere interessante Ess-Settings einfallen, die bereits stattgefunden haben oder noch stattfinden werden, freue ich mich sehr über eure Tipps. Wenn möglich schreibt gerne euren Namen und Kontaktdaten dazu, damit ich mich bei Fragen zurückmelden kann.

1. Durchlauf: Essen als soziales und als sinnliches Experiment

Im folgenden Essen wird der eine Tisch sich nun der Gemüse-Reis-Pfanne aus der sinnlichen und der andere Tisch aus der sozialen Perspektive nähern. Die sozialen Esserinnen und Esser, essen gemeinsam zu ca. 5 Personen aus einer Schale und müssen sich dabei in der Gruppe über die Ess-Reihenfolge und die Aufteilung der einzelnen Komponenten verständigen. Welche gesellschaftlichen Konventionen werden hier berührt oder überschritten? Und was fügt der Akt des gemeinsamen Essens dieser ohnehin sozialen Situation hinzu?

Die sinnlichen Esserinnen und Esser erforschen, inwiefern das Essen mit den Händen dem Schmecken, Riechen und Sehen eine weitere Dimension hinzufügen kann. Was passiert, wenn den sinnlichen Vorgängen des Betrachtens und des Schmeckens der Akt des Befühlens zwischengeschaltet wird? Im Anschluss an das Essen soll bei einem Tee oder Kaffee die Frage diskutiert werden, wie sich das Sinnliche bzw. das Soziale im gemeinsamen Essen gezeigt haben und wo sich diese beiden Kategorien evtl. auch überschnitten haben.

2. Durchlauf: Essen als performativer Rahmen und als Repräsentation

Im folgenden Experiment essen die Gäste an dem einen Tisch die Minestrone mit Räuchertofu nicht als leichten Imbiss zum Abend sondern entdecken ihre Zutaten als Repräsentanten von Weltanschauungen, Forschungsproblemen oder Erinnerungen. Welcher Diskurs steckt zum Beispiel hinter einem Würfel Räuchertofu? Und welche Referenzen liefert das Gericht „Gemüsesuppe“? Die Essenden des anderen Tisches begeben sich während der Mahlzeit in eine Inszenierung von Regeln und Normen der essenden Versammlung. Es gilt hier, die Rolle der zugewiesenen Person für die Zeit des Essens anzunehmen und mit dem eigenen Wissen über Tischsitten und auch der eigenen Persönlichkeit zu füllen. Während und im Anschluss an das Essen sollen bei einem weiteren Glas Wein oder Wasser die Fragen diskutiert werden, welche Referenzen mit der Suppe aufgetischt wurden und welche Rollen und Regeln sich aus den Vorgaben in Form von Gesprächen und Handlungen in der Gruppe ergeben haben.

Zusammenfassung Taktsinn II

Nachdem es im ersten Taktsinn Dinner zum Nicht-Visuellen einen starren Wechsel zwischen Essen und Vorträgen gab, sollten beim zweiten Taktsinn Dinner das Essen und Sprechen über ein Thema (Erinnerung) stärker zusammenfallen. Das Essen selbst und die damit verbundenen sinnlichen Wahrnehmungen wurden stärker fokussiert und in diesem Prozess nach den verbundenen Erinnerungen gefragt.

Dabei wurde deutlich, dass weniger beim Essen selbst Erinnerungen hervorgerufen wurden als vielmehr beim Zubereiten und Sprechen über diese Erinnerungen. Einige Nudelsoßen wurden an diesem Abend ihres Zaubers der Erinnerung beraubt – zumindest was den Geschmack betrifft. Die Vermittlung der Besonderheit  der einzelnen Soßen geschah vor allem über die beim Füttern erzählten Geschichten und weniger über das Schmecken selbst. Dabei ist das sinnliche aber nicht vom sozialen Erleben zu trennen.

Dabei funktionierten sowohl das gemeinsame Kochen der Gemüsesuppe als auch die Situation des Essens als logisches Setting, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Im Abschlussgespräch wurde dabei deutlich, dass die Lebensmittel und Gerichte einerseits aber auch ihre spezifische Zubereitung andererseits immer auf Handlungen, Situationen und Diskurse außerhalb der aktuellen Koch- und Ess-Situation verweisen und dies nicht außer Acht gelassen werden darf.

In den Ess-Experimenten (in der Gruppe schweigend essen, sich gegenseitig Füttern) zeigten sich unterschiedliche Dinge: Zum einen wurde die erhoffte geschärfte Wahrnehmung des Essens nicht erreicht, da die künstliche oder auch als unangenehm empfundene Handlung dieses “Sich-Einfühlen” eher überlagerte. Zum anderen zeigten sich vor allem beim gegenseitigen Füttern die Tabus und Grenzen des gemeinsamen Essens. So stellen der eigene Tellerrand und die Autonomie über Ess-Geschwindigkeit und Komposition der einzelnen Bissen einen wichtigen Aspekt dar.

Funktionierte das gemeinsame Kochen und die Verständigung über die Größe der einzelnen Gemüsestückchen sowie das Würzen in der neutralen Mietküche noch relativ problemlos, so stellte sich abschließend die eigene Küche als Ort von Autorschaft und Herrschaft heraus, in der zwar gemeinsam gegessen aber weniger gerne gemeinsam gekocht wird.

 

Zusammenfassung Taktsinn I

Dieser Taktsinn-Abend stellte in der Reihe der weiteren experimentellen Settings einen ersten Versuch dar, in dem zum einen versucht werden sollte, dem „Nicht-Visuellen“ in Forschung, Kunst und Alltag näherzukommen. Zum anderen interessierte mich hier das Format des Forschungsdinners: Was kann dieses leisten und welches (besondere) Wissen kann es hervorbringen? Als allen vertrauter, performativer Rahmen diente hier das Festmahl, in dem die Gäste durch die Tischreden und das per se sinnliche Essen zum Austausch über das Nicht-Visuelle angeregt werden sollten. Weiterlesen

Begrüßungsrede Taktsinn I

 Begrüßungsrede (Inga Reimers)

Herzlich willkommen in der Universität der Nachbarschaften ich freue mich sehr, diesen von langer Hand geplanten Abend endlich mit euch und Ihnen genießen zu können. Als Überschrift für diesen Abend habe ich das Kunstwort „Taktsinn“ gewählt. Es trägt in komprimierter Form bereits einen großen Teil meines Forschungsinteresses in sich: Es beinhaltet den Takt eines Musikstücks, dass hörend wahrgenommen werden kann und auch den Takt im Sinnes eines Fingerspitzengefühls im menschlichen Miteinander. Mit dieser Metapher verweist Takt eben auch auf das Taktile, also das tastende Wahrnehmen. Mit dem zweiten Wort „Sinn“ wird auf das übergeordnete Feld der Sinne verwiesen. Darüber hinaus trägt der Abend die Überschrift des Nicht-Visuellen und des Experiments, welches zentrale Gegenstände in meiner Doktorarbeit im Graduiertenkolleg Versammlung uns Teilhabe darstellen. Weiterlesen